Solange die Nachtigall singt by Antonia Michaelis

Solange die Nachtigall singt by Antonia Michaelis

Autor:Antonia Michaelis
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-08-08T04:00:00+00:00


Feuchtmoos

Die Schönheit begann unter seltsamen Umständen.

Das erste kleine Mädchen sah sie zuerst. Das zweite kleine Mädchen hörte sie zuerst. Das dritte kleine Mädchen spürte sie zuerst. Es würde, als Einzige, nie aufhören, sie zu spüren.

Die Schönheit begann zwischen den ersten dichten Ästen des Waldes. Die Mädchen blinzelten ins Licht, als man ihnen die Augenbinden abnahm, in grünes, lebendiges Licht, und konnten nicht glauben, was sie sahen. Es war das Gegenteil von allem, was sie in den letzten beiden Jahren gesehen hatten. Es gab keine Wände. Keine Dunkelheit. Keine verschlossenen Türen. Es war auch das Gegenteil von allem, was sie davor gesehen hatten. Es gab keine zu sauberen Fußböden. Keine Nannys und Kindermädchen und keine Alarmanlage.

»Wir sind wieder dort«, flüsterte das dritte kleine Mädchen. »Dies ist der Tag, an dem unser Vater mit uns im Wald spazieren geht. Gleich kommt er hinter einem Baum hervor.«

»Unsinn«, sagte das zweite kleine Mädchen. »Es ist ein anderer Wald.

»Aber die Vorstellung ist schön«, flüsterte das erste kleine Mädchen, das keinen Streit wollte.

»Schsch!«, machte der Mann, der bei ihnen war. Das war der Mann, den das dritte kleine Mädchen den Netten Mann nannte. Trotz der Sache mit dem Weihnachtsbaum. In seinen Augen blitzte Nervosität. Der andere Mann war nicht bei ihnen. Wenn das dritte kleine Mädchen an ihn dachte, dachte sie: der Arme Mann. Trotz der Sache auf dem Bett. Weil seine Kinder alle tot waren.

Der Nette Mann hatte gesagt, hier wäre ein guter Ort, er kannte ihn von früher, kannte den Wald wie sich selbst. Sie folgten ihm schweigend. Er hatte ihre Hände zusammengebunden. Er hätte sich die Mühe sparen können. Sie hielten sich ohnehin an den Händen.

»Guckt, die Farben«, sagte das erste kleine Mädchen.

»Dämmergrün, Nebelmilch, Fuchsrot«, sagte das zweite kleine Mädchen. »Dunkelwein, Tiefschwarz, Brandorange.«

»Rosentau«, wisperte das dritte kleine Mädchen. »Mondsilber, Feuchtmoos.«

»Schsch!«, machte der Mann.

Sie gingen schweigend weiter, stolperten über den unebenen Erdboden und hätten sich gerne bäuchlings daraufgelegt, um den Duft der Erde einzuatmen und die großen goldgrünen Käfer zu beobachten. Endlich hielt der Nette Mann an. Und da sahen sie die Felsen, die über ihnen aufragten, den Beginn eines Tunnels, gebildet von hohen Steinwänden und überhängenden Ästen. Es war schattig und kalt in dem Tunnel. Erst später würden sie das Wort »Klamm« lernen.

Der Nette Mann führte sie zu einer Nische im Fels und bedeutete ihnen, hineinzutreten. Hier, sagte er, würden sie auf ihren Vater warten. Sie würden mit ihm sprechen dürfen, und die Männer würden den Vertrag bekommen, die schriftliche Zusicherung, dass ihre Forderungen erfüllt wurden. Endlich. Sie würden die Mädchen nicht freilassen, noch nicht, erst wenn die Männer Nachricht aus ihrem Land bekamen, dass alles geklappt hatte. Dass die Waffen angekommen waren, dass die deutsche Regierung ihre Leute wirklich unterstützte. Erst dann würden sie den Mädchen erlauben, zu gehen. Es konnte noch dauern, Tage, Wochen, Monate. Aber was waren ein paar Wochen? Es hatte zwei Jahre gedauert, der Regierung jenen Vertrag zu entringen, den der Vater der Mädchen mitbringen würde. Und sie durften ihn sehen. Jetzt gleich.

Das dritte kleine Mädchen las die Angst in den Augen des Netten Mannes.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.